Flüchtlingszahlen steigen: EU-Innenminister einigen sich „gemeinsame Asylpolitik“

Verfahren an den Außengrenzen beschleunigen – Wer wird noch hereingelassen?

„Wir haben heute historische Entscheidungen für ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem getroffen“, erklärtr Bundesinnenministerin Faeser im Anschluss an das Innenministertreffen in Luxemburg am 8. Juni. „Und wir haben gezeigt, dass wir Europäer gemeinsam handeln – nach Jahren der Blockaden und des Streits.“

Beim Rat für Justiz und Inneres in Luxemburg hatten die europäischen Innenministerinnen und Innenminister über die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) verhandelt. Grundlage waren Entwürfe für Verordnungen, die die aktuelle schwedische EU-Ratspräsidentschaft auf Basis von Vorschlägen der EU-Kommission erarbeitet hat.

 

Wie geht es jetzt weiter?

Nach der Einigung der EU-Innenministerinnen und Innenminister verhandelt nun das Europäische Parlament über die Beschlüsse. Ziel ist, die Reformvorschläge bis zum Ende der europäischen Legislaturperiode im Frühjahr 2024 zu verabschieden.

 

Worauf hat sich der EU-Innenrat geeinigt?

Verfahren für Asylsuchende mit geringer Anerkennungsquote an den Außengrenzen
Künftig soll an den EU-Außengrenzen über den Status von Menschen entschieden werden, die nur eine sehr geringe Aussicht auf Schutz in der EU haben. Diejenigen, die keinerlei Aussicht auf ein Bleiberecht in der EU haben, müssten von dort aus in ihre Heimat zurückkehren.

 

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Unbegleitete Kinder und Jugendliche sollen direkt in die EU einreisen können und nicht in die Grenzverfahren kommen, diese Forderung der bundesdeutschen Ministerin wurde mit aufgenommen: „Gemeinsam mit Luxemburg, Irland und Portugal hatte sich die Bundesinnenministerin dafür eingesetzt, dass das auch für Kinder und Jugendliche gilt, die mit ihren Eltern kommen, konnte sich damit aber nicht gegen die Mehrheit der EU-Staaten durchsetzen. Dafür wird sich Deutschland in den nun anstehenden Verhandlungen zwischen Rat und Europäischem Parlament weiter einsetzen", erklärte Faeser.

 

Die Verfahren an den Außengrenzen sollen nicht für Menschen gelten, die vor Folter, Krieg und Terror geflohen sind. Es geht um schnelle und faire Asylverfahren für diejenigen, bei denen nur eine geringe Wahrscheinlichkeit besteht, dass sie in der EU Schutz benötigen.

 

Menschen, die mit Kindern in Europa Schutz suchen, kommen meist aus Kriegsgebieten - und die haben ohnehin hohe Aussicht auf Schutz in der EU und müssen nicht in die Grenzverfahren.

 

Verpflichtende Solidarität mit den stark belasteten Außengrenzstaaten

Die Solidarität mit den stark belasteten Mitgliedstaaten an den EU-Außengrenzen soll nicht mehr freiwillig, sondern verpflichtend sein. Länder, die keine Flüchtlinge aufnehmen wollen, sollen zukünftig zu Ausgleichszahlungen gezwungen werden.

 

Dazu die Bundesinnenministerin: „Alle Mitgliedstaaten tragen Verantwortung. Diese Verantwortung wird künftig auf mehr Schultern verteilt sein. Die Solidarität in der Verteilung der Flüchtlinge gehört zum Gesamtpaket.“

 

Insbesondere die Staaten am Mittelmeer könnten nur Grenzverfahren durchführen, wenn sie auch wüssten, dass Menschen danach entweder zurückkehren oder andere EU-Staaten sie bei der Aufnahme unterstützen.

„Wir wollen durch geregelte Migration vor allem dafür sorgen, dass das furchtbare Sterben auf dem Mittelmeer endlich aufhört“, so Faeser.

 

Weitere Beschlüsse 

Darüber hinaus sollen die bisherigen „Dublin-Regeln“ reformiert werden, um Verfahren deutlich zu beschleunigen und so irreguläre Sekundärmigration zu reduzieren – also das unkontrollierte Weiterziehen in andere EU-Staaten.

 

Für die Frage, ob Menschen auch in einem sicheren Drittstaat Schutz finden und dorthin überstellt werden können, wurden klare rechtliche Regeln auf der Grundlage menschenrechtlicher Standards definiert.

 

Innerhalb der EU sollen künftig gemeinsame Mindeststandards für die Aufnahme, Unterbringung und Versorgung von Schutzsuchenden gelten. Die Verfahren zur Aufnahme von Menschen aus humanitären Gründen sollen EU-weit vereinheitlicht werden.

 

Reaktionen auf den Kompromiss

 

Städte- und Gemeindebund NRW: „Ein Signal, aber noch nichts erreicht“

Die Kommunen haben schon mehrfach betont, dass ihre Kapazitäten allmählich an die Grenzen kommen, und fordern eine Entlastung.

Christof Sommer, Hauptgeschäftsführer des Städte- und Gemeindebundes NRW, erklärte dem WDR: „Die Einigung der EU-Staaten ist für uns das erhoffte Signal, dass sich zumindest langfristig endlich etwas ändert. Angesichts der höchst unterschiedlichen Positionen ist ein solcher Kompromiss nach vielen Jahren fruchtloser Diskussionen ein Lichtblick.

Eine bessere Steuerung der Zuwanderung über die EU-Außengrenzen und eine gerechtere Verteilung in Europa sind zwei entscheidende Hebel, diese ernste Krise in den Griff zu kriegen. Wir haben grundlegende Änderungen in der Migrationspolitik schon lange und in aller Deutlichkeit gefordert, zuletzt im Mai in der Münsteraner Erklärung unseres Präsidiums.
Das Grundrecht auf Asyl wird durch den Brüsseler Kompromiss nicht infrage gestellt. Die Staaten sind für eine menschenwürdige Unterbringung auf europäischer Ebene verantwortlich, so wie die Kommunen es auf lokaler Ebene sind.
Aber noch ist nichts erreicht. Die Erfahrung zeigt, dass es Jahre dauern kann, bis ein EU-Kompromiss zu spürbaren Veränderungen in der Praxis vor Ort führt. Ebenso wichtig ist für uns, dass Bund und Länder uns kurzfristig unter die Arme greifen. Die Enttäuschung nach dem letzten Flüchtlingsgipfel sitzt tief."

 

Pro Asyl: „Ausverkauf der Menschenrechte in Europa“

Als „Frontalangriff auf den Rechtsstaat und das Flüchtlingsrecht“ bezeichnet die Organisation PRO ASYL die Einigung. Innenministerin Faeser und Außenministerin Annalena Baerbock würden „das menschenrechtliche Desaster schön reden“.
Es sei eine „Fehlinformation, dass Geflüchtete aus Afghanistan und Syrien nicht in das Grenzverfahren kommen“, heißt es in einer Presseerklärung: „Auch für diese Gruppen wird absehbar zum Beispiel in Griechenland in den verpflichtenden Grenzverfahren unter haftähnlichen Bedingungen zuerst die Zulässigkeit eines Asylantrages geprüft. Die massiv verwässerten Kriterien für angeblich sichere Drittstaaten öffnen Tür und Tor, um sich der Schutzsuchenden auf scheinlegale Weise zu entledigen“. Selbst Familien mit Kindern würden nun künftig an Europas Grenzen in Haftlagern hinter Stacheldraht landen.

„Wenn Geflüchtete in Grenzverfahren weggesperrt werden, um sie in unsichere Drittstaaten abzuschieben, dann hat das mit Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit nichts mehr zu tun“, sagt PRO ASYL-Sprecher Karl Kopp.
Und die viel zitierte Solidarität unter den Mitgliedsstaaten sieht so aus: Wer keine Flüchtlinge aufnehmen möchte, muss das auch weiterhin nicht tun. Diese Länder können stattdessen finanzielle Zahlungen leisten – zum Beispiel an die sogenannte libysche Küstenwache zur Flüchtlingsabwehr.

 

PRO ASYL befürchtet, dass letzte menschenrechtliche Bedenken der Bundesregierung fallen gelassen wurden und Faeser und Baerbock, „wissentlich oder unwissentlich, bar jeder Grundlage die Realität schön färben“.

Die von Faeser aufgestellte Behauptung, dass syrische und afghanische Flüchtlinge nicht in das Grenzverfahren kommen, sei sachlich falsch: „Neben der verpflichtenden Anwendung der Grenzverfahren für Asylsuchende aus Herkunftsstaaten mit einer Schutzquote von unter 20 Prozent sowie Schutzsuchenden, denen vorgeworfen wird, zum Beispiel Ausweisdokumente zerstört zu haben, steht es den Mitgliedstaaten offen, die Grenzverfahren auch auf jene Schutzsuchenden anzuwenden, die zum Beispiel über einen ‚sicheren Drittstaat‘ fliehen. Alle Ankommenden werden bereits jetzt im EU-Modell-Projekt in Griechenland einer Zulässigkeitsprüfung unterworfen. Selbst Familien mit Kindern, die aus Syrien oder Afghanistan stammen, sind davon betroffen. Diese Praxis soll nun zur europäischen Norm werden.“

 

Grenzverfahren seien keine schnellen Asylverfahren an der Grenze: „In jedem Asylverfahren – auch in den diskutierten Grenzverfahren – wird zuallererst entschieden, ob ein Asylantrag zulässig ist. Wer über einen angeblich sicheren Drittstaat kommt, wird zurückgewiesen. Und das gilt auch für Kinder und ihre Familien. Und weil die EU aktuell nicht von funktionierenden Demokratien mit guten Schutzsystemen umgeben ist, sollen die Kriterien gesenkt werden, damit unsichere Staaten für sicher erklärt werden können. Das Kriterium, wann ein dritter Staat als sicher gilt, soll so aufgeweicht werden, dass angeblich sichere Teilgebiete ausreichen, um Menschen in das Land abzuschieben.“

Mitgliedstaaten sollen bei der nationalen Bestimmung von „sicheren Drittstaaten“ auch nur Teile eines Staates als sicher erklärt können: „Eine europäische Norm, die dies verhindert, gibt es dann nicht mehr. Die Justiz als dritte Gewalt wird damit entscheidend geschwächt. Bisher haben europäische Gerichte regelmäßig Verstöße gegen Europäisches Recht gerügt.“

PRO ASYL fordert: „Die Beschlüsse müssen gerade an dieser Stelle umgehend öffentlich gemacht werden. Die Bedeutung wird an den Zwischenständen deutlich.“

 

Quellen: Bundesinnenministerium/StGB NRW/Pro Asyl
Foto: Ralphs_Fotos / Pixabay